Das Fingerlabyrinth

 am Dom San Martino in Lucca

 

Inhaltsübersicht:

Ein „Labyrinth“ – was ist das?

1.   Ursprung des Wortes

2.   Definition
2.1.  verschlungenes Wegesystem
2.2.   Abgrenzung zu Irrgarten

3.  Vorkommen in unterschiedlichen Epochen
  3.1.   Antike
  3.2.   Mittelalter
  3.3.  Gegenwart

Das „Fingerlabyrinth“ – ein Labyrinth mal etwas anders!

1.   Fakten
  1.1.   Position
  1.2.   Größe/Aussehen
  1.3.   Fingerlabyrinth
  1.4.   Geometrie und Symbolik
  1.5.   Inschrift

2.   Funktion und Deutung
  2.1.   Bezug zur Sage des Theseus
  2.2.   mittelalterliche Deutung unter christlichen Gesichtspunkten

Das „Labyrinth“ – was bedeutet es für uns?

1.   Meditation
2.   Abbild unseres Lebenswegs

 

Ein „Labyrinth“ – was ist das?

Der Begriff „Labyrinth“ hat seine Wurzeln in der griechischen Mythologie. „Labrys“ ist der Name für den Felsenpalast, der für den König von Knossós auf Kreta errichtet wurde. Im Inneren des Gebäudes lag der Minotaurus, ein Mischwesen aus Mensch und Stier. Das Untier wurde in einem komplexen System aus vielen Gängen gefangen gehalten, aus dem niemand ohne Hilfe herausfinden konnte. Dieses architektonische Gebilde prägte den Begriff „Labyrinth“.

       

Palast von Knossos

Nach der heutigen Auffassung würde die historische Beschreibung allerdings eher einen Irrgarten charakterisieren. Bei einem Labyrinth führt nämlich ein einziger Weg verschlungen vom Eingang bis zur Mitte und wieder zurück. Man kann sich hier also nicht verlaufen. Im Gegensatz dazu versteht man unter einem Irrgarten ein Wegenetz mit Abzweigungen, Kreuzungen und Sackgassen, durch die ein verwirrendes Muster unterschiedlicher Gänge entsteht.


Irrgarten                                                Labyrinth  

Labyrinthe kommen in den unterschiedlichen Epochen von der Antike über das  Mittelalter bis hin zur Gegenwart in zahlreichen Formen und Gestaltungsvarianten vor, so z. B. als Zeichnung, Fußbodenmosaik, Heckengarten oder Fingerlabyrinth.

 

 

           

Münzen aus Knossos
            467 - 430 v. Chr.

 

Bei dem ältesten wissenschaftlich sicher datierbaren Labyrinth handelt es sich um eine Felsritzung aus Griechenland. Sie entstand in der Zeit um 1200 v. Chr:

 

Mittelalterliche Labyrinthe finden sich in vielen Kathedralen. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist das Fußbodenlabyrinth in Notre-Dame de Chartre in Frankreich:

            

 

Eine weitere Form, die ebenfalls in Kirchen sehr beliebt ist, ist das Fingerlabyrinth, wie wir es am Dom von Lucca sehen können:

 

Aber auch in der Gegenwart sind Labyrinthe noch nicht aus der Mode gekommen. Sie liefern ein beliebtes Motiv in der Gartenbaukunst, sodass man sie bereits im Kleinen findet – in Vorgärten oder Klosterhöfen, gestaltet mit Kräutern oder Blumen.

Aber auch in Parks kann man sich an den unterschiedlichsten Ausführungen von Labyrinthen erfreuen.

     
 

 

Den Reiz, der immer noch von Labyrinthen ausgeht, spürt man am Beispiel der Pfarrkirche in Beyenburg bei Wuppertal. Hier wurde im Jahr 2000 anlässlich der Jahrhundert- und Jahrtausendwende eine Bronzetafel angebracht. Auf dieser ist ein Fingerlabyrinth zu sehen, das dem berühmten Labyrinth von Chartre nachempfunden ist.

Fingerlabyrinth in Beyenburg

 

 

Das „Fingerlabyrinth“ – ein Labyrinth mal etwas anders

Das Labyrinth am Dom San Martino in Lucca ist nicht ein beliebiges Labyrinth, sondern ein Fingerlabyrinth. Es befindet sich an einer Säule unter der westlichen Vorhalle des Doms, angrenzend an die Nordwand des Campanile, des Glockenturms.

Das senkrecht hängende Flachrelief ist auf Augenhöhe in die Steinwand gehauen. Genauer gesagt, wurden die Trennwände des Labyrinths ausgemeißelt und die Wege blieben stehen. In der Mitte des 50 cm großen Gebildes war ursprünglich eine Minotauromachie dargestellt: der Kampf des Theseus mit dem Minotaurus.

Minotauromachie:

    Mosaik

 

 

„Cum Minothauro pugnat Theseus Labirinto.”
(„Theseus kämpft mit Minotaurus im Labyrinth.”)


Miniatur aus Regensburg
Ende des 12. Jahrhunderts 

 Dom San Martino mit Campanile

Fingerlabyrinth                                                                         

 

Was ist es aber, das einem Fingerlabyrinth seinen Namen verleiht?

Am besten kann man dies natürlich feststellen, wenn man das Labyrinth in seiner vorgesehenen Funktion gebraucht – den Weg mit dem Finger „geht“, ihn also nachfährt.

 

 

Formal betrachtet kann man hierbei erkennen, dass das kreisförmige Labyrinth konzentrisch aufgebaut ist, also aus Kreisen mit einem einzigen Mittelpunkt, aber unterschiedlichen Radien. Insgesamt zählt man elf solche Umgänge. Zusätzlich enthält die Figur zwei ausgeprägte Kreuzachsen und ist von einem Quadrat umschlossen.

Zwar sind dies noch nicht die definierenden Merkmale eines Fingerlabyrinths, sondern sie zeichnen Labyrinthe im Allgemeinen aus. Trotzdem ist die Geometrie, verbunden mit der zusammenhängenden Symbolik, ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu der Besonderheit dieses Fingerlabyrinths. 

Denn genauso wenig wie die Position des Labyrinths willkürlich gewählt wurde, ist auch seine Form zufällig entstanden. Heute können wir zwar nur noch spekulieren, welche Bedeutung diese Symbolik für die damaligen Menschen hatte, aber es gibt genügend Anhaltspunkte, die gewisse Vermutungen unterstützen.  

Der Kreis, das prägende geometrische Element eines Labyrinths, ist eine Figur von maximaler Symmetrie. Unter allen geschlossenen Kurven gleicher Länge, also Figuren mit gleichem Umfang, ist er diejenige mit dem größten Flächeninhalt. Symbolisch steht der Kreis für die Ewigkeit, die Unendlichkeit, die Allmacht Gottes und die Sonne, wobei diese wiederum ein Symbol für das Christentum darstellt.  

Interessanterweise vermeidet der Weg selbst die Form des Voll-Kreises, da sich jeder Umlauf zurückbiegt, bevor ein Kreis vollständig geschlossen werden kann. Auf diese Weise kommt ein Wechsel von Halb- und Viertelkreisen zustande. Den Weg zur Mitte geht man so über einen größtmöglichen Umweg: Man läuft von außen Richtung Mitte bis an den Kreis um die Mitte. Von dort allerdings wird man wieder nach außen bis zum äußersten Kreis geleitet, bevor man schließlich ins Zentrum gelangt.

Wie bereits erwähnt beinhaltet das Labyrinth elf Umgänge. In der christlichen Zahlensymbolik steht die Zahl elf für Sünde, Übertretung und Maßlosigkeit, da die Zahl der zehn Gebote überschritten wird. Gleichzeitig bedeutet sie Unvollkommenheit, weil die vollkommene Zwölfzahl nicht erreicht wird.

Durch die Wendungen wird ein Kreuz sichtbar. Da es vier gleich lange Arme besitzt und symmetrisch aufgebaut ist, handelt es sich um ein griechisches Kreuz. Als zentrales Element der Figur steht es für die Erlösung der Menschen durch Jesus’ Kreuzestod.                   

Das Labyrinth verbindet in besonderer Weise den Kreis und das Quadrat zu einer Figur. Gemeinsam gelten sie als Zeichen für Körper und Geist, Erde und Himmel. Von der Erde, gekennzeichnet durch das Quadrat, geht der Lebensweg des Menschen aus. Die Erde wiederum ist umschlossen vom Kreis des Himmels. Somit ist das Labyrinth insgesamt ein Symbol der Ganzheit, ein Symbol der Welt und des Lebens.

Ein mathematisch interessanter Gedanke ist zudem auch, dass die Anordnung der Wege in diesem Fingerlabyrinth wohl die einzige Möglichkeit ist, in einer Figur, bestehend aus elf Kreisen, jede Strecke genau einmal abzulaufen. Man lässt also auf dem Weg zur Mitte kein Kreisteil aus, begeht aber auch keines mehr als einmal.

Möchte man ein ganzheitliches Bild dieses Fingerlabyrinths gewinnen, so schließt sich an die geometrische Interpretation die mittelalterliche Deutung unter christlichen Gesichtspunkten an.

Wichtig hierfür ist ein noch gar nicht beachtetes, jedoch bedeutsames Element:

die lateinische Inschrift rechts neben dem Labyrinth.

 

Sie lautet:

Hic quem creticus edit Dedalus est laberinthus

de quo nullus vadere quivit qui fuit intus

ni theseus gratis araidne stamine iutus.

 

Übersetzen kann man diese Worte wie folgt:

Dies ist das Labyrinth, das Daidalos gebaut hat

und aus dem niemand herauskommen kann, der einmal drinnen ist;

nur dem Theseus ist dies dank des Fadens der Ariadne gelungen.

Um dieser Inschrift Informationen entnehmen zu können, muss man wissen, dass sich die Worte auf eine griechische Sage beziehen, in der Theseus die Hauptrolle spielt. Theseus ist der Sohn des Königs von Athen. Er wird fern von seinen Eltern bei seinem Großvater aufgezogen. Herangewachsen, gelangt er auf der Suche nach seinem Vater nach Athen. Auf seinem Weg dorthin vollbringt er viele Heldentaten.

 

Soviel zu der Vorgeschichte, jetzt die Sage:

Theseus bei Minos

 

Zu jener Zeit lastete ein schweres Unglück auf Athen. Denn man erwartete die Abgesandten Kretas, die zum dritten Mal den üblichen Tribut holen wollten. Vor Jahren hatte König Minos die Athener im Krieg besiegen können, dessen Ursache der Tod seines Sohnes in Attika war. Alle neun Jahr mussten die Athener nun sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen nach Kreta schicken, wo diese dem Minotaurus geopfert wurden. Der Minotaurus war halb Mensch halb Stier und hauste in einem Labyrinth, das von dem berühmten Daidalos erbaut

worden war.
Das Los entschied, welcher der Kinder Athens mit den Gesandten Kretas gehen sollten. Theseus, der bekümmert war über solch grausames Handeln, erklärte sich freiwillig bereit, die Fahrt nach Kreta anzutreten. Doch wollte er sich nicht hilflos opfern lassen, sondern das Ungeheuer im Kampfe niederringen, um so Athen für immer von dieser schweren Bürde zu befreien.

So gelangte Theseus an den Hof von König Minos. Als Ariadne nun die herrliche Gestalt des kühnen Helden erblickte, verliebte sie sich sogleich in ihn. Bevor nun Theseus ins Labyrinth geführt wurde, schlich sie sich heimlich zu ihm und gestand ihm ihre Liebe. Dann versprach sie ihm im Kampf gegen den Minotaurus zu helfen, wenn er sie als seine Frau nach Athen führen würde. Dies versprach ihr auch Theseus, der von der schönen Jungfrau ganz angetan war. Da gab sie ihm ein geweihtes Schwert, das allen Zauber des Untiers widerstehen würde, und ein Wollknäuel, das er am Eingang festbinden und dann ablaufen lassen sollte, um aus dem Irrgarten wieder herauszufinden.
So vorbereitet betrat Theseus voller Zuversicht das Labyrinth. Mit dem geweihten Schwert erschlug er den Minotaurus und fand dann mit Hilfe des Wollfadens den Weg in die Freiheit wieder zurück. Jubelnd begrüßten ihn die wartenden Jungfrauen und Jünglinge. Sogleich stachen sie zusammen mit Ariadne in See.
Doch das Volk feierte ihn als seinen Helden und zukünftigen König, der ihre Stadt von dem Joche Minos befreit hatte.

 

Warum ein Labyrinth an einer Kirche?

Versetzen wir uns einmal ein paar Jahrhunderte zurück, in die Situation der frommen Leute im italienischen Lucca:

Wenn die Gläubigen den Dom durch die westliche Vorhalle betraten, sahen sie vor dem Eintritt in den heiligen Raum rechter Hand auf Augenhöhe an der Wand des Glockenturms die Darstellung des Labyrinths. Der eine oder andere von ihnen ging wohl nicht direkt auf die Eingangstür zu, sondern wendete sich vorher dem Steingebilde zu, um mit dem Finger die Linien nachzufahren.

War es bloß ein unterhaltsames Spiel, den Linien mit dem Finger nachzugehen, oder wollte es der Kirchgänger symbolisch dem Theseus nachtun, bevor er den Raum des Domes betrat?

Sicher beantworten können wir diese Frage zwar nicht mehr, doch wissen wir, dass die Fahrt des Theseus nach Kreta für die alten Athener nicht irgendeines seiner Abenteuer war, sondern die entscheidende Bewährungsprobe vor Antritt seiner Königsherrschaft. Dies wussten auch die Leute von Lucca und erzählten deswegen die Geschichte von Theseus’ Reise wahrscheinlich als Gleichnis für das Abenteuer des Lebens:  

Durch den Sieg über den Minotaurus, das gefährliche Ungeheuer, verlässt Theseus das Labyrinth – gereift vom Jugendlichen zum Erwachsenen, zum Nachfolger seines Vaters, zum König.

Hinweise auf diese mythologische Deutung findet man also in der Inschrift. In der christlichen Interpretation der Sage symbolisiert Theseus Jesus, der Ariadnefaden die göttliche Macht und Minotaurus steht für den Teufel.  

Falls unser mittelalterlicher Kirchgänger in Lucca sich also mit dem Labyrinth nicht gerade die Zeit vertrieb, sondern die Symbolik verstand und sich zunutze machte, vollzog er vor Betreten des Domes die heilige Handlung seiner Taufe rituell nach. Er wiederholte im Labyrinthgang auf sinnliche und motorische Weise seine Taufe, die Befreiung von der Erbsünde und die Aufnahme ins Christentum.   

 

Das „Labyrinth“ – was bedeutet es für uns?

Jetzt war die ganze Zeit die Rede vom „mittelalterlichen Kirchgänger“, aber was können wir, hier und heute, von diesem Labyrinth mitnehmen? 

Allgemein gesagt ist der Weg durch ein Labyrinth Meditation und Erneuerung. Er kann durch seinen meditativen Charakter zur Umkehr und zum Überdenken des eigenen Lebens auffordern. Man geht in sich und sammelt neue Energie. Im Zentrum ist eine Kehrtwendung um sich selbst notwendig, um wieder hinaus zu gelangen.  

Zusätzlich ist das Labyrinth Abbild unserer verschlungenen Lebensbahn. Die Botschaft, dass viele Wege zum Ziel führen, soll uns das Labyrinth nicht vermitteln. Doch zeigt uns die Sicherheit, mit der man trotz des größten Umweges am Ziel ankommt, dass man auch im Leben nicht immer den geradlinigsten Weg wählen wird. Trotzdem kommt man im Endeffekt – ist man ausdauernd genug und kehrt nicht auf halber Strecke um – dorthin, wo man möchte. 

Auf diesen beiden Denkansätzen beruht die Logik des langen, verschlungenen Weges und wir erhalten Antwort auf:  

- Warum nicht direkt zum Mittelpunkt?
- Warum stattdessen diese komplizierte Annäherung?

   Ganz nach dem Motto: „Der Weg ist das Ziel.“

 

Katharina Baist

 

Quellen:

http://encyclopedie-de.snyke.com/articles/labyrinth.html
http://www.das-labyrinth.de/altertum/mythos/index.html
http://www.jaskolski.de/labyr_kap_5.htm
http://www.kai-ehlers.de/laby/finger.htm
http://www.mythentor.de/griechen/theseus1.htm